Krise in Bosnien und Herzegowina: Mehr Holz für Europas Feuerring?
Von all den kontroversen Remakes und Fortsetzungen der letzten Jahre gehört eine Neuauflage der Jugoslawienkriege wohl mit großer Wahrscheinlichkeit zu den am wenigsten erwünschten. Während die kollektive Aufmerksamkeit Europas fest auf den drohenden Krieg zwischen der Ukraine und Russland gerichtet ist (A3M-Report siehe hier), droht im Nordwesten der Balkanhalbinsel bereits weiteres Unheil. In Bosnien-Herzegowina stehen sich Bosniaken, Kroaten und Serben in der schwersten politischen Krise seit der Gründung des Landes unversöhnlich gegenüber. Diese Krise droht nicht nur Bosnien und Herzegowina zu zerreißen, sondern auch den vom Krieg gezeichneten Balkan in einen weiteren bewaffneten Konflikt zu verwickeln.
Das blutige jugoslawische Erbe
Zwischen 1991 und 2001 war der Balkan Schauplatz heftiger Kämpfe während der sogenannten Jugoslawienkriege, die zum vollständigen Zerfall der multiethnischen jugoslawischen Föderation führten. Obwohl alle diese Kriege durch Massenmord, ethnische Säuberungen und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet waren, so war doch der Bosnienkrieg der bei weitem brutalste. Dieser verheerende Konflikt fand von April 1992 bis November 1995 zwischen muslimischen Bosniaken und kroatischen Truppen auf der einen und serbischen Truppen auf der anderen Seite statt. Im Laufe des Krieges wurden 2,2 Millionen von insgesamt 4,4 Millionen Einwohnern vertrieben, und rund 100 000 Menschen wurden getötet. Traurige Berühmtheit erlangte dabei der von serbischen Einheiten verübte Völkermord von Srebrenica.
Durch das Friedensabkommen von Dayton wurde das Land schließlich in zwei autonome Regionen aufgeteilt: die Föderation Bosnien und Herzegowina, die hauptsächlich von Bosniaken und Kroaten bewohnt wird, und die Republika Srpska mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung. Ebenso wurde ein kompliziertes und stark dezentralisiertes politisches System geschaffen, um die Machtteilung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen zu gewährleisten. Die mächtigste Person im Land ist jedoch kein Einheimischer, sondern ein international ernannter Hoher Repräsentant, der befugt ist einseitig verbindliche Rechtsvorschriften zu erlassen und sogar Amtsträger aus ihren Positionen zu entfernen.
Der drohende Zerfall
Es war eine der letzten Handlungen des scheidenden österreichischen Hohen Vertreters Valentin Inzko, welche die aktuelle Krise auslöste. Inzko erließ ein Gesetz, das die Leugnung von Völkermord und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern verbietet. In der Republika Srpska sind jedoch die Leugnung des Massakers von Srebrenica und die Verherrlichung serbischer Kriegsverbrecher zu einem zentralen ideologischen Pfeiler der derzeitigen politischen Führung geworden. Bestes Beispiel dafür war die Veranstaltung eines verbotenen Feiertags anlässlich des verheerenden Bosnienkrieges in der Republika Srpska im Januar. Während der Feierlichkeiten veranstaltete der umstrittene bosnische Serbenführer Milorad Dodik zusammen mit verurteilten Kriegsverbrechern eine Parade paramilitärischer Einheiten in der Stadt Banja Luka, während die Zuschauer nationalistische und islamophobe Lieder skandierten. Die Feierlichkeiten wurden von einer Welle ethnisch-nationalistischer Ausschreitungen in Dutzenden von Städten in der Republika begleitet. Dodik selbst, der einer der drei Präsidenten des Landes ist, leugnet ebenfalls vehement den genozidalen Charakter des Massakers von Srebrenica. Er tritt außerdem schon seit langem für die Sezession der serbischen Gebiete ein und ist die treibende Kraft hinter dem geplanten Rückzug der Republika Srpska aus wichtigen gemeinsamen staatlichen Institutionen wie den nationalen Streitkräften bis Mai diesen Jahres.
Angeblich wurde dieser Schritt durch das Gesetz gegen die Leugnung von Völkermord ausgelöst, doch viele Beobachter sehen darin einen bloßen Vorwand um eine de-facto Sezession und schlussendlich den Zerfall von Bosnien und Herzegowina voranzutreiben. Einige Stimmen sind jedoch der Meinung, dass hinter der gegenwärtigen Krise banalere Gründe als ethno-nationalistische Leidenschaften stecken. So könnte Dodik lediglich versuchen, Aufmerksamkeit von dem Korruptionsnetz um ihn herum abzulenken oder seinen Rückhalt im Inland vor den nationalen Wahlen im Oktober zu stärken. Letztlich spielen seine Motive eine weitaus geringere Rolle als die Tatsache, dass er in einer Region mit Feuer spielt, die historisch gesehen ein absolutes Pulverfass ist.
Der geopolitische Hintergrund der Bosnien-Krise
1995 war es die Intervention der NATO, die den Konflikt beendete, aber heute ist nur noch eine kleine EU-Militärmission mit etwa 600 Soldaten im Lande. Obwohl Bosnien und Herzegowina an mehrere EU-Mitgliedsländer grenzt, neigen die europäischen Staats- und Regierungschefs dazu, der Region nur in Krisenzeiten Aufmerksamkeit zu schenken und haben sich noch dazu als leicht ablenkbar erwiesen. Umgekehrt kann die bosnisch-serbische Führung auf diplomatische Unterstützung aus Russland, Serbien und Ungarn zählen. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán hat sogar angedeutet, dass er Maßnahmen der EU und der NATO gegen die Republika Srpska blockieren würde. In diesem Zusammenhang alarmierend ist auch die zunehmende militärische Aufrüstung Serbiens besonders in Verbindung mit Äußerungen aus Belgrad, die auf beunruhigende Weise an die Idee eines „Großserbiens“ erinnern. All dies geschieht vor dem Hintergrund, einer völligen Ablenkung der NATO und der EU durch die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden russischen Invasion in der Ukraine.
Nichtsdestotrotz erscheint es zumindest im Moment unwahrscheinlich, dass die bosnisch-serbische Führung bewusst einen bewaffneten Konflikt anzettelt, um die Abspaltung zu erzwingen. Wahrscheinlicher ist, dass sich die gemeinsamen staatlichen Strukturen allmählich auflösen und Bosnien und Herzegowina dadurch letztendlich zu einem „gescheiterten Staat“ wird. Allerdings könnte das bewusste Schüren ethnischer Spannungen in Verbindung mit der Hetzrhetorik von „Menschen zweiter Klasse“ und „verräterischen Konvertiten“ eine gefährliche Eigendynamik entwickeln. Nationalistische Gruppen könnten beschließen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, sollten ihre politischen Führer untätig bleiben. Westlichen Staats- und Regierungschefs täten gut daran, daran sich vor Augen zu halten, dass auf dem westlichen Balkan 18 Millionen Menschen leben. Sollte in der Region ein Krieg ausbrechen, könnte dies eine Flüchtlingswelle auslösen, welche die Migrationskrise von 2015 noch weit in den Schatten stellen würde.
Um über neue Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina auf dem Laufenden zu bleiben, sollten Reisende die A3M-Berichterstattung über die Ereignisse in dem Land aufmerksam verfolgen, insbesondere im Vorfeld der nationalen Wahlen im Oktober 2022.