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Jahrestag des Ukraine-Krieges: Welche Entwicklungen sind zu erwarten?

Zum Jahrestag des Ukraine-Krieges machte Russlands Präsident Putin deutlich, dass sich an den militärischen Zielen des Kremls bis heute nichts geändert hat. Was dies für den weiteren Kriegsverlauf und den europäischen Tourismus bedeutet, hat A3M-Analyst Thorsten Muth untersucht.

Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind die Fronten festgefahren, bewegen sich in die eine wie in die andere Richtung wenn überhaupt nur langsam. Schon wenige Tage und Wochen nach der Invasion war klar geworden, dass sich die russische Führung verspekuliert hatte und eine schnelle Eroberung des 43-Millionen-Landes ausgeschlossen war. Bereits im April vollzog der Kreml deshalb einen Strategiewechsel und verlagerte die Kampfhandlungen in die dicht besiedelte Donbas-Region. In der Folge flohen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland, der monatelange Stellungskrieg verwandelte Städte wie Mariupol, Bachmut und Marjinka in menschenleere Trümmerwüsten. Unterdessen bieten die ukrainischen Streitkräfte den russischen Truppen, die ihre Reihen mittlerweile um hunderttausende junge und unerfahrene Rekruten, amnestierte Strafgefangene und die berüchtigte Gruppe Wagner ergänzt haben, unnachgiebig die Stirn. Europäische und US-amerikanische Waffenlieferungen stärken der Ukraine den Rücken, deutsche Panzerhaubitzen und HIMARS-Mehrfachraketenwerfer aus den USA fügen der russischen Armee empfindliche Verluste zu. Eine ukrainische Gegenoffensive, die im Herbst zunächst noch beachtliche Gebietsgewinne verzeichnen konnte, kam nach der Einnahme Chersons jedoch zum Erliegen.

Die Rede des russischen Präsidenten zur Lage der Nation kommt zu einer Zeit, in der sich innerhalb der Bevölkerung Ungeduld breit macht. Die Verluste der eigenen Streitkräfte sind unübersehbar. Es überrascht daher wenig, dass Putin das bereits bekannte Narrativ mit Nachdruck aufrecht erhalten will: Der Westen, der ein „Neonazi-Regime“ in Kyiv stütze, habe einen militärischen und wirtschaftlichen Angriff zur Vernichtung Russlands gestartet. Russland hingegen hätte alles dafür getan, diesen Krieg zu verhindern, und keine andere Wahl gehabt als sich zu verteidigen. Die erklärten Ziele der „militärischen Spezialoperation“ vom Februar 2022, darauf lässt das Festhalten an der russischen Kriegspropaganda schließen, sind nach wie vor gültig. Was Putin jedoch nicht sagt: In Wirklichkeit ist der Ukraine-Krieg nicht das Ergebnis der NATO-Osterweiterung oder verletzter Minderheitenrechte im Donbas, sondern Teil einer größeren Strategie der West-Expansion Russlands, die neben der Ukraine auch Belarus umfasst. Erst im Februar gelangte ein Dokument an die Öffentlichkeit, das die Eingliederung des Vasallenstaates in die Russische Föderation bis spätestens 2030 skizziert. Für die Ukraine, der das gleiche Schicksal droht, geht es daher weiterhin um nichts weniger als den Fortbestand ihrer Souveränität und Staatlichkeit, die Putin ihr in historisch haltlosen Exkursen immer wieder abspricht.

Im Hinblick auf zukünftige Verhandlungen und deren Erfolgschancen gibt Putins Rede vom 21. Februar wenig Anlass für Optimismus. Russland dürfte aktuell um keinen Preis zu Zugeständnissen bereit sein, denn noch scheint der Krieg nicht zu teuer, der tragische Verschleiß von Metall und Menschenleben nicht zu unerträglich. Zumindest teilweise ist es offensichtlich gelungen, den wirtschaftlichen Schaden durch europäische Sanktionen aufzufangen, mittels stabiler Beziehungen zu China, Indien und anderen Staaten. Für neue Großoffensiven müsste der Kreml jedoch auch den Nachschub für die Front beschleunigen, aber große Neuankündigungen wie eine formelle Kriegserklärung oder eine neue Runde der Mobilmachung blieben zum Jahrestag aus. Bereits im Spätsommer hat fast eine Million junger Russen das Land über Georgien, Armenien und Kasachstan verlassen – ein Exodus, den die russische Führung möglicherweise kein zweites Mal riskieren möchte. Für den Moment scheint es Putin daher zu genügen, die Luftangriffe auf Cherson und andere Städte in der Ukraine hochzufahren und den Terror gegen die Zivilbevölkerung zu intensivieren. Er dürfte darauf setzen, dass die westlichen Verbündeten der Ukraine, allen voran die Vereinigten Staaten, irgendwann den Willen zu weiteren kostspieligen Waffenlieferungen verlieren. Oder den politischen Rückhalt in ihren eigenen Ländern. Auch ist fraglich, ob Brüssel, Paris und Berlin die Ukraine wirklich leidenschaftlich genug als Teil Europas anerkennen, um die Forderung nach einem bedingungslosen Abzug Russlands aus ukrainischem Staatsgebiet als Vorbedingung für Verhandlungen konsequent aufrecht zu erhalten. Jeder Kompromiss, der kürzer greifen würde, wäre ein Sieg für den Aggressor, allerdings scheint es wenig realistisch, dass sich Russland aus Donezk oder Luhansk zurückziehen wird oder dass die Ukraine diese Gebiete aus eigener Kraft zurückerobern könnte. Am Ende wird die Frage entscheidend sein, wie entschlossen sich Europa dieser Zerreißprobe weiterhin entgegenstellen möchte.

Auch wenn angesichts der anhaltenden Kämpfe und Bombardements noch keine Rede von einem „Einfrieren“ des Konflikts sein kann, lässt die aktuelle Lage kaum Hoffnung auf einen schnellen Weg aus der Sackgasse zu. Die Fronten bewegen sich in keine Richtung, offene Verhandlungen finden nicht statt. Für den internationalen Tourismus bedeutet dies, dass die kriegsbedingten Einschränkungen – insbesondere die Sperrung des europäischen und des russischen Luftraums – vorerst weiter bestehen bleiben. Die globale Luftfahrtindustrie erwartet nach verheerenden Einbußen während der COVID-19-Pandemie für 2023 zwar eine Rückkehr zur Rentabilität, doch der weiterhin hohe Kerosinpreis sorgt für dauerhaft teure Tickets. Zusammen mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen stellt dies eine große Herausforderung für die Urlaubsplanung vieler Europäer dar. Die Reiselust ist nach mehreren Corona-Jahren ungebrochen, doch anstelle hochpreisiger Fernreisen rücken nähere Ziele in den Fokus. Inlandsreisen sind beliebt wie nie zuvor, weshalb sich der Tourismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern trotz Ukraine-Krieg und Inflation weiter erholt. Selbst direkte Nachbarstaaten der Ukraine und Russlands verzeichneten 2022 einen Anstieg: In Polen etwa hat die Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen die Übernachtungszahlen um 177 Prozent wachsen lassen, ähnlich sieht es im Baltikum aus. Unterm Strich lässt sich also bereits jetzt feststellen, dass sich der Positiveffekt, den der Wegfall der COVID-19-Einschränkungen erzeugt hat, weitaus deutlicher auf die weitere Entwicklung des Tourismus in Europa auswirken wird als die negativen Auswirkungen des bewaffneten Konflikts.

Author

Thorsten Muth

Comment (1)

  1. Air Defender 23 – Manöver zur Urlaubszeit - A3M Global Monitoring
    2023-06-01

    […] Unter deutscher Führung werden 25 Nationen ab Mitte des Monats den Ernstfall proben: Bis zu 10.000 Soldatinnen und Soldaten werden an der Durchführung von Air Defender 23 beteiligt sein, der größten Verlegeübung von Luftstreitkräften in der NATO-Geschichte. Von den über 200 teilnehmenden Flugzeugen gehören allein 100 der U.S. Air National Guard und kommen direkt aus den Vereinigten Staaten. Im Fokus der Übung steht Bundeswehrangaben zufolge die gemeinsame Reaktionsfähigkeit der verschiedenen Luftstreitkräfte in einer Krisensituation, doch es soll auch „Stärke im Bündnis“ demonstriert werden – ein deutliches Zeichen der Geschlossenheit gegenüber Russland. […]

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