Blog Jahresvorschau 2023

China/Taiwan 2023: Kalter oder heißer Krieg?

Ein historischer Überblick

Im Jahr 1949 gewannen die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong den Bürgerkrieg gegen die nationalchinesische Partei Kuomintang, sodass diese sich unter ihrem Vorsitzenden Chiang Kai-shek auf die Insel Formosa (Taiwan) zurückziehen musste und dort die Republik China ausrief. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) strebt seitdem die „Wiedervereinigung“ der Volksrepublik mit Taiwan an, welches sich selbst als eigenständig betrachtet. Die USA erkannten Taiwan bis in die 1970er Jahre als die einzige rechtmäßige Regierung von ganz China an. Unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Jimmy Carter wurde Pekings „Ein-China-Politik“ adaptiert, die seit dieser Zeit die Volksrepublik China gegenüber Taiwan favorisiert (Shirley A. Kan, 2011).

Die Situation im Jahr 2022

In der jüngsten Vergangenheit hatte Xi Jinping, seit 2022 Generalsekretär der KPCh in dritter Amtszeit, die militärische Drohkulisse gegenüber dem viel kleineren, aber wirtschaftlich sehr erfolgreichen Taiwan massiv ausgebaut. So fand im August 2022 das bisher größte chinesische Militärmanöver in den Gewässern um Taiwan statt, während chinesische Militärflugzeuge zwischen Anfang 2020 und September 2022 hunderte Male die Luftüberwachungszone der demokratischen Nation verletzten. Taiwan auf der anderen Seite investiert aus Furcht vor einer chinesischen Invasion massiv in sein Militär und warnte dieses Jahr erstmals, dass es jedes chinesische Eindringen in seinen Luftraum als „Erstschlag“ behandeln würde.

Neben den Lieferungen hochmoderner militärischer Ausrüstung durch die USA findet Taiwan zudem auch diplomatisch immer mehr Gehör im Westen. Mehrere Delegationen US-amerikanischer und anderer westlicher Parlamentarier besuchten im Jahr 2022 Taipeh. Hierbei ist besonders der Taiwan-Besuch durch die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi am 02.08.2022 zu nennen, welchen China aufs Schärfste kritisierte. Xi Jinping und andere hochrangige Mitglieder der KPCh könnten den Besuch von Pelosi auch als Teil einer umfassenderen US-Strategie betrachten. Zu dieser gehören unter anderem der militärpolitisch ausgerichtete Zusammenschluss Japans, Australiens, Indiens und der USA im „Quad“ sowie Präsident Joe Bidens mehrfache öffentlichen Erklärungen, dass die USA Taiwan im Falle einer Invasion verteidigen würden. Nicht zuletzt aufgrund dessen versucht China seit geraumer Zeit, Einfluss auf die taiwanesische Gesellschaft zu nehmen.

In wirtschaftlicher Hinsicht bahnt sich indes eine stärkere Vernetzung zwischen dem Westen und dem Inselstaat an, dessen Firmen in diesem Jahr 66% aller Halbleiter weltweit hergestellt haben werden (Nordin/Stünkel, 2022). Beispielsweise wurde im Juni 2022 eine neue gemeinsame Handelsinitiative unter dem Titel „Taiwan-U.S. Initiative on 21st-Century Trade“ verkündet. Währenddessen kämpft China mit immer größeren Problemen wie etwa einer Immobilien- und demografischen Krise, einer Schließungswelle von Firmen, hoher Korruption sowie einem daraus resultierenden wachsenden Unmut in der Bevölkerung.

2023: Krieg oder nicht Krieg?

Die aufgezeigten Tendenzen werden auch Einfluss auf die Beziehungen zwischen Taiwan und China im Jahr 2023 nehmen. Jedoch besteht nach wie vor die Frage, wie sich die Situation um Taiwan in kommendem Jahr konkret gestalten wird. Wird es 2023 zu einem Krieg zwischen China und Taiwan kommen? Xi Jinping hat es zu seinem persönlichen Ziel gemacht, Taiwan während seiner Regierungszeit zu einem Teil Chinas zu machen und bekräftigte dies jüngst vor dem Parteikongress. Dies hat viele zu der Annahme veranlasst, dass eine Invasion früher oder später bevorstehen würde. Daher bestehen letzten Endes nur zwei Szenarien bezüglich des Taiwan-Status, die ausschließlich an eine Entscheidung aus Peking gekoppelt sind: Entweder wird sich die chinesische Führung entscheiden, Taiwan bereits im Jahr 2023 anzugreifen oder wird es später zu tun.

Während manche Analysten auf den 100. Jahrestag der Volksrepublik China im Jahr 2047 als Enddatum einer potenziellen Invasion verweisen, haben führende Vertreter des US-Militärs wie etwa der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte Mike Milley das Jahr 2027 als möglichen Zeitraum für eine Invasion genannt. Xi Jinping selbst forderte die Volksbefreiungsarmee auf, bis 2027 auf eine Invasion der Insel vorbereitet zu sein. Ein neuer Bericht von US-Geheimdienstmitarbeitern geht sogar davon aus, dass China Taiwan bereits vor den Nationalwahlen im Januar 2024 angreifen werde.

Unterstützt wird dieser frühzeitige Termin sicherlich durch die Wiedernennung von Xi Jinping zum Generalsekretär der KPCh auf dem 20. Parteikongress im Oktober dieses Jahres. Denn nun ist nicht nur weiterhin ein starker Verfechter der Wiedervereinigungsidee an der Macht. Xi baute nach seiner Wiederernennung zusätzlich seine Macht aus, indem er Säuberungen von politischen Rivalen durchführen ließ und weitere Loyalisten in die höchsten Posten des Politbüros beförderte. Experten fragen sich daher, ob es noch jemanden in der Führungsriege gibt, der den mächtigsten Mann Chinas seit Mao Zedong von einem derart überstürzten Schritt abhalten könnte.

Ein autokratisches System wie China könnte auch dann am gefährlichsten sein, wenn es gerade seinen Zenit überschritten hat – und die Entscheidungsträger eines solchen politischen Systems wissen dies am besten. Wie oben beschrieben hat China bereits mit massiven Problemen zu kämpfen und es scheint, als ob diese (selbst verursachten) Probleme in Zukunft an Intensität gewinnen würden. Nach dieser Logik bliebe Xi nur ein kleines Zeitfenster für einen militärischen Erfolg in der Formosastraße.

In diesem Zusammenhang ist auch eine reine Seeblockade möglich. Auch diese würde einem kriegerischen Akt gleichkommen und hätte fatale politische und wirtschaftliche Konsequenzen. Zwar könnte China so wohl keine Kapitulation Taipehs erzwingen, jedoch würde es dadurch den Inselstaat vom Welthandel abschneiden und es zu politischen Zugeständnissen zwingen können.

Wenn Chinas Führung die derzeitigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kosten für Taiwan jedoch als zu hoch erachtet, würde ein frühzeitiger Kriegsbeginn wie etwa im Jahr 2023 ausbleiben: Im Kriegsfall würde China ähnlich wie Russland als Aggressor betrachtet werden und müsste heftige Sanktionen sowie politische Isolation auf unbestimmte Zeit in Kauf nehmen. Da Chinas Wirtschaft noch stark von Exporten in den Westen abhängig ist, würden westliche Sanktionen der ohnehin strauchelnden chinesischen Wirtschaft zusätzlichen Schaden zufügen und könnten zu einer Rezession führen. Kleine an der Neuen Seidenstraße partizipierende Länder würden Peking den Rücken kehren und nach anderen Investoren Ausschau halten.

Des Weiteren beobachten die Parteikader der KPCh genau, wie sich die Ukraine militärisch gegen seinen viel mächtigeren Nachbarn Russland behauptet. Xi wird sich hierbei die Frage stellen, ob seine Armee schon invasionsbereit ist oder ob es nicht sinnvoller wäre, in den kommenden Jahren weiter aufzurüsten. Denn im Global Firepower Index rangiert China nach wie vor an dritter Stelle hinter Russland. Auch das Argument, dass sich die Schlagkraft einer Armee erst im Krieg zeigt, sei genannt: Die Volksrepublik führte seit 1979 keinen Krieg mehr. Damals verlor die Volksbefreiungsarmee trotz hoher Überzahl an Soldaten gegen Vietnam, das zu jener Zeit gleichzeitig gegen die Roten Khmer in Kambodscha kämpfte (Steven J. Hood, 1992). Taiwan auf der anderen Seite brächte von Anfang an ein viel moderneres Militär und eine viel stärkere Wirtschaftsleistung mit in den Konflikt als die Ukraine heute – oder Vietnam im Jahr 1978. Darüber hinaus probt das taiwanesische Militär ungleich dem ukrainischen seit Jahrzehnten für den Ernstfall. Wenn man die Statements der US-Regierung ernst nimmt, hätte Taiwan auch das stärkste Geschwader der Welt, die US Navy, auf seiner Seite und bekäme wohl militärische Unterstützung aus den mächtigen „Quad“-Staaten. Denn mit Taiwan stünde nicht nur die weltweite Halbleiterindustrie, sondern auch der freie Welthandel auf dem Spiel. Japan, Indien und Australien dürften sich durch diesen Expansionsschritt in unmittelbarer Nachbarschaft besonders bedroht fühlen. Schließlich muss noch beachtet werden, dass sich die VR China und Taiwan keine Landgrenze teilen. Schnelle Landgewinne nach Grenzüberquerung wie im Donbass sind somit von vornherein ausgeschlossen.

Im Falle eines übereilten Krieges besteht für den „überragenden Führer“ Xi Jinping daher das Risiko, dass er ein stark geschwächtes China und somit ein zerrüttetes Erbe hinterlässt. Ein Mann mit derartigen politischen Ambitionen will dies sicher nicht. Nach rationaler Abwägung seitens Xis würde es also zumindest nicht im Jahr 2023 zu einem „heißen Krieg“ in der Taiwanstraße kommen – vielmehr würde es vorläufig bei einem „kalten“ bleiben und noch für einige Jahre versucht werden, durch pro-chinesische Lobby innerhalb von Taiwan Einfluss auf die dortige Politik und Wirtschaft zu nehmen.

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Travel Security Analyst Team