Flygskam: Die Scham vor dem Fliegen im Jahr 2023?
Der Flughafen, die Sicherheitskontrolle, das Boarding, Sitzplatzsuche, das Anlegen des Sicherheitsgurtes, die Unterweisung des Bordpersonals, das Flugzeug hebt ab, Musik, ein Film oder ein Buch, der Versuch zu schlafen, das Flugzeug landet, zahlreiche Passagiere reißen sich panisch auf, um eventuell zu den ersten zu gehören, die ihr Gepäckstück aus der Ablage zerren, um eventuell mit als Erstes aussteigen zu dürfen, um eventuell zuerst im Zielland anzukommen. Das Flugzeug ist der Inbegriff des Sinnbildes für das Wohlgefühl Urlaub. Doch seit 2018 unterlag dieses Sinnbild in Deutschland auch einem weiteren Narrativ, welches unter „flygskam“ (Flugscham) in Schweden bereits 2017 seinen Weg in die Öffentlichkeit fand und dem Flugzeug die Konnotation eines umweltverschmutzenden Transportmittels verlieh. In Schweden gaben etwa ein Drittel der Befragten 2019 an, dass sie auf das Flugzeug im Inland verzichteten (Friedrich et al., 2020). Tatsächlich waren im Durchschnitt gegenüber 2018 im Monat 8,7% weniger Inlandsflüge durchgeführt worden (Gössling et al., 2020). Auch in Deutschland gab jeder vierte Befragte 2019 an, dass er/ sie auf Inlandsflüge verzichten würde, gefolgt von einem tatsächlichen monatlichen Rückgang der Inlandsflüge um 3,7%. Das Narrativ der Flugscham schien Auswirkungen auf das Flugverhalten in der Bevölkerung zu haben, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, wie Umfragen dies nahelegten.
Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Flugscham unser Reisen in der näheren Zukunft beeinträchtigt. Wird sich die Anzahl der Flüge langsam aufgrund des Narratives um eine grüne, saubere und dem Klimawandel entgegenwirkende Mobilität reduzieren oder ist Flugscham ein temporäres Phänomen, welches vom Verlauf der Demonstrationen von Fridays for Future und Extinction Rebellion abhängt und wieder an Bedeutung verliert?
Flugverhalten in Deutschland zwischen 2018 und 2021
Bis 2019 stieg die Anzahl der beförderten Fluggäste in Deutschland kontinuierlich. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes erreichte sie 2019 mit über 100 Millionen Fluggästen, die aus Deutschland reisten, ihren Höchststand. Schaut man sich jedoch den Anstieg zwischen 2017-2018 und 2018-2019 an, so ist ein Unterschied von knapp 3 Millionen Passagieren zu identifizieren. Das sind etwa 3 Millionen Fluggäste, die weniger flogen.
Durch COVID-19 kam ein weiterer Faktor hinzu, der bestimmte, ob Reisende in den Urlaub fuhren: nationale Einreisebeschränkungen.
Eine Studie der Forschungsgemeinschaft für Urlaub und Reisen (FUR) e.V., hat die Bereitschaft von deutschen Urlaubern zum Reisen im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr analysiert. Dabei wird eine Reise dadurch definiert, mindestens 5 Tage an einen Ort zu verreisen. Die Studie weist daraufhin, dass die Bereitschaft, während der COVID-19 Jahre eingebrochen ist (2020 = 37%; 2021 = 49%). Zwar erholte sich die Reisebereitschaft, dennoch ist dieser Wert weiterhin deutlich niedriger als im Jahr 2019, bei dem 61% aller Befragten eine Reise von mindestens 5 Tagen durchzuführen planten. Gleichsam analysierte FUR in ihrer Reiseanalyse 2022 die beabsichtigten Verkehrsmittel, die Reisende aus Deutschland für ihren Urlaub nutzen wollten.
Die Studien von FUR zeigen nebst der Absicht zu Reisen auch die verwendeten Transportmittel auf. Während Reisende auf Schiffe am wenigsten zurückgreifen, so sind Flugzeug und Automobil die häufigste Form des Transportmittels der Wahl. Natürlich korreliert dies stark mit der Distanz des Ziels, doch in Deutschland sind Reiseziele in Europa (Spanien, Italien, Österreich und Frankreich) die am häufigsten gewählten Urlaubsorte. Folgt man der Statistik von FUR, so ist im COVID-19 Jahr 2020 ein ganz klarer Einbruch in der Nutzung des Flugzeugs zu sehen. Dies steht jedoch wahrscheinlich mit der komplexen und unübersichtlichen Lage von COVID-19 Einreisebedingungen zusammen, welche teilweise bis 2022 vorherrschten.
Beide Statistiken zeigen den Bruch in den Krisenjahren 2020 und 2021 auf, aber auch die langsame Erholung im Jahr 2021.
Flugscham im Jahr 2023?
Trotz des geringen Einflusses, den die Klimabewegung auf die Flugbereitschaft von Reisenden zu haben scheint, kommen Gössling et al., 2020 in ihrer Studie über die moralische Implikation, welche die Klimabewegung auf das Flugverhalten hat, zu einem Ergebnis. Sie weisen darauf hin, dass Fridays for Future den Diskurs um Luftverschmutzung und Triebhausgasemissionen durch Flugverhalten stark mitgeprägt haben und dieser in der Öffentlichkeit Widerhall fand. Auch wenn es keine Revolution im Flugverhalten zu geben scheint, so rücken Forderungen nach Alternativen zur Flugtätigkeit und Emissionsreduktionen ins Politische. Dort schlagen sie Wurzeln als ein Thema der Nachhaltigkeit. Somit führt das Thema Flugscham nicht direkt über die moralische Implikation zu einer Reduktion des Fliegens, sondern eher über Einsicht in die Notwendigkeit, das Thema der Nachhaltigkeit zu adressieren. Die Studie von Gössling et al. thematisierte unter anderem auch Wege zum Umgang mit dem hohen Flugverhalten. So wollen 14,4% der Befragten das Thema durch höhere Kosten von Flugpreisen regulieren, während 13,5% eine vorgeschriebene Pflicht begrüßen, die Fluggesellschaften dazu zwinge, Emissionen zu reduzieren.
In den Fokus gerückt ist das Thema Klimaschutz vor allem durch Bewegungen, die mediale Aufmerksamkeit genießen, allen voran Fridays for Future. Das „Fit-for-55-Paket“ der EU-Kommission hat schärfere Klimaziele verankert, die auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Doch auch auf EU-Ebene sollen Emissionen reduziert werden, u.a. durch die Einführung einer Kerosinsteuer auf innereuropäischen Flügen. Bis 2027 soll die seit 1944 bestehende Steuerfreiheit von Kerosin völlig aufgehoben sein und über ein Emissionshandelssystem abgedeckt werden. Dies werde unmittelbar zur Erhöhung von Ticketpreisen führen. Damit werde auch der Privatflugsektor getroffen, welcher aus Sicht der CO₂-Bilanz weitaus dramatischer zu betrachten ist als der kommerzielle Flugverkehr.
2023 wird wie 2022, nur besser
Es lässt sich keine endgültige Prognose der Flugreisetätigkeit für das Jahr 2023 abzeichnen, doch anhand von den genannten Faktoren lässt sich eine Tendenz erahnen. So mag Flugscham nicht durch einen erhobenen Zeigefinger den Urlaubsreisenden davon abhalten, im Sommer nach Spanien zu fliegen, die Frequenz, mit der dies geschieht, wird jedoch abnehmen, da Flüge teurer werden. Jenseits des Diskurses um Nachhaltigkeit fallen auch Faktoren wie Streiks für höhere Löhne ins Gewicht. Vor allem Billigflugairlines sind von Kerosinversteuerungen betroffen, da diese weniger Kapazitäten haben, die Preise der Tickets günstig zu halten. Eventuell werden sie versuchen ihre Kosten über das Personal zu kompensieren, was wiederum zu Streiks führen kann, wie im Jahr 2022 in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Skandinavien, Großbritannien und anderen zu beobachten war.
Inlandsflüge werden tendenziell durch alternative Transportmittel wie Züge oder das eigene Auto abgelöst werden, da die COVID-19 Jahre 2020 und 2021 die Machbarkeit gezeigt hatten.
Nicht zuletzt wird die Entwicklung des Flugverkehrs mit den Maßnahmen der Politik in Verbindung stehen, welche wiederum von Demonstrationen und dem medialen Fokus abhängig sind. Sowohl der mediale Fokus als auch die Demonstrationen werden von den real erlebten Veränderungen des Klimas in weiten Teilen der Welt beeinflusst. Sie werden Handlungsdruck spüren und ihn auf der Straße oder in Museen Ausdruck verleihen.
Mit dem Flugzeug reisen werden wir weiterhin, nur besser.