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Die Türkei und der Ukraine-Krieg: Die Tragödie des Einen, die Chance des Anderen?

Millionen auf der Flucht, zehntausende Tote und ganze Städte in Trümmern. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat sich in einem atemberaubenden Tempo zur schlimmsten humanitären Katastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Die wirtschaftlichen Schäden für die Ukraine sind bereits jetzt unvorstellbar groß, und der Konflikt hat auch für den Rest der Welt verheerende Auswirkungen. Doch für die Türkei könnte der Krieg in der Ukraine sich auch als eine einmalige Chance erweisen. Das Land am Bosporus hat sich nicht nur als wichtiger diplomatischer Vermittler zwischen den Konfliktparteien etabliert, sondern der Konflikt hat auch seine Bedeutung als Drehkreuz für Luftfahrt- und Tourismus massiv gesteigert. Könnte die Türkei also, falls sie ihre Karten richtig ausspielt, am Ende womöglich als der überraschende Sieger des Ukraine-Krieges hervorgehen?

Ein zentrales Drehkreuz für Flugverkehr und Tourismus?

Vor dem Krieg mussten europäischen Fluggesellschaften jedes Jahr Hunderte Millionen Euro an Überfluggebühren an Russland abführen. Da viele der schnellsten Flugrouten zwischen Europa und Asien über Russland führen, war das Land eine zentrale Drehscheibe für Flüge zwischen den beiden Regionen. Seit der Sperrung des russischen Luftraums werden die meisten dieser Flüge nun über die Türkei geleitet, was die Türkei zu einem der wichtigsten Luftverkehrsknotenpunkte für europäische Fluggesellschaften, mit Flugzielen in Asien, gemacht hat. Gleichzeitig hat die Türkei auch für russische Fluggesellschaften erheblich an Bedeutung gewonnen, da diese nun weder in den EU-Luftraum einfliegen noch ihre modernsten Flugzeuge außerhalb Russlands einsetzen können. Dadurch erhält auch die für Flugzeugwartung und -versorgung verantwortliche türkische Luftfahrtindustrie Auftrieb.

Unbeeindruckt von den internationalen Sanktionen haben sich türkischen Fluggesellschaften und die Regierung bemüht, den Tourismus aus Russland zu fördern. Im Rahmen eines von der Regierung unterstützten Plans soll eine eigene neue Charterfluggesellschaft für Reisende aus Russland gegründet werden. Zudem sollen russische Reiseveranstalter Darlehen in Höhe von etwa 285 Millionen Euro erhalten, um den russischen Touristenstrom in die Türkei aufrechtzuerhalten. Die westlichen Russland-Sanktionen trotz der türkischen NATO-Mitgliedschaft zu unterlaufen, könnte sich für Ankara aber noch als schwieriger diplomatischer Balanceakt erweisen.

Die Türkei als Inflations-Trendsetter

In der Zwischenzeit hat die türkische Regierung jedoch viel größere Probleme als ein wenig westliche Missbilligung. Obwohl Meldungen über eine sprunghaft steigende Inflationsrate fast schon alltäglich geworden sind, war die Türkei dennoch ein Trendsetter, wenn es um Inflationsrekorde geht. Bereits lange bevor die Pandemie oder steigende Energiekosten die Preise weltweit in die Höhe trieben, verlor die türkische Lira im zweistelligen Prozentbereich an Wert. Doch in Verbindung mit der Misswirtschaft der Regierung hat der Krieg in der Ukraine die Abwertung der türkischen Währung nun endgültig in den Bereich der Hyperinflation getrieben. Offiziell liegt die jährliche Inflationsrate bei 61%, aber das unabhängige Forschungsinstitut ENAG schätzt die Teuerung gar auf schwindelerregende 156%. Die türkischen Behörden haben bereits reagiert und zwar mit einem Gesetzesvorschlag, der die Veröffentlichung solcher alternativen Inflationsraten illegal machen würde.

Gesetz hin oder her, die Auswirkungen der Hyperinflation sind deutlich sichtbar. Etwa 60% der türkischen Bevölkerung können mit ihrem Einkommen nicht mehr ihre monatlichen Ausgaben decken, ähnlich viele nutzen ihr Auto aufgrund der gestiegenen Kraftstoffpreise nicht mehr, und etwa ein Drittel der Bevölkerung gibt sogar an, Hunger zu leiden. Dementsprechend ist das Land am Bosporus äußerst anfällig für die durch den Krieg in der Ukraine verursachten Verwerfungen. In diesem Zusammenhang besorgniserregend sind insbesondere die Blockade ukrainischer Häfen und die Tatsache, dass das Schwarze Meer nun aktives Kriegsgebiet ist. Vor dem Konflikt waren Russland und die Ukraine die Hauptlieferanten für türkische Weizen- und Speiseölimporte. In Anbetracht der angespannten türkischen Wirtschaftslage ist es daher wenig überraschend, dass allein schon Gerüchte über Nahrungsknappheiten zu Panikkäufen im Land geführt haben.

Türkische Tourismusbranche: Ein weiteres Kriegsopfer?

Ursprünglich sollte 2022 das Jahr des lang ersehnten Neuanfangs für die schwer angeschlagene türkische Tourismusbranche werden, wobei insgesamt mit etwa 7 Millionen russischen und 2,5 Millionen ukrainische Touristen gerechnet wurde. Der Krieg in der Ukraine hat diese Hoffnungen jedoch zunichte gemacht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Kaufkraft russischer Touristen stark gesunken ist und diese nun Schwierigkeiten haben, ihr Geld im Ausland überhaupt auszugeben. Trotz der türkischen Bemühungen um Schadensbegrenzung werden nur noch etwa 1,5 bis 1,7 Millionen russische Gäste in der Türkei erwartet – etwa ein Drittel der schwachen pandemiebedingten Zahlen von 2021. Noch schlechter steht es um die ukrainischen Touristen, die um mehr als 90% auf nur noch etwa 100.000 Besucher zurückgehen sollen. Es wird zwar mit einer Erholung der europäischen Reisendenzahlen gerechnet, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass diese den Ausfall der russischen und ukrainischen Gäste kompensieren können. Ganz zu schweigen davon, dass der Krieg, der jenseits und manchmal sogar im Schwarzen Meer tobt, nicht gerade zur Attraktivität der Türkei als Reiseziel beiträgt. (Eine ausführlichere Einschätzung unserer A3M-Experten finden Sie hier)

Anstatt dass der Tourismussektor die wirtschaftliche Erholung der Türkei vorantreibt, scheint er derzeit eher die Wirtschaftskrise noch weiter zu verschärfen. Unterdessen heizt der Krieg in der Ukraine die galoppierende Inflation der Lira weiter an und gefährdet nun sogar die Ernährungssicherheit der türkischen Bevölkerung. Angesichts dieser verheerenden Entwicklungen ist selbst die Chance, sich dauerhaft als Luftverkehrsdrehkreuz zu etablieren, wenig mehr als ein Trostpflaster. Somit läuft die Türkei wohl eher Gefahr, zu einem weiteren Kriegsopfer und nicht etwa zu einem Kriegsgewinner zu werden.

Author

Michael Trinkwalder