Libanon: Staatszerfall in Zeitlupe?
Ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht, über 200 Tote, Tausende Verletzte und Hunderttausende obdachlos. Die gigantische chemische Explosion, die die libanesische Hauptstadt Beirut am 4. August 2020 verwüstete, wäre für jedes Land eine Katastrophe ohnegleichen gewesen, aber für den Libanon markierte sie nur den Höhepunkt eines wahrhaften Annus horribilis. Die derzeitige Lage des Landes kann nur noch als absolut desaströs beschrieben werden und verschlechtert sich zusehends weiter: Eine Währung im freien Fall, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, tägliche landesweite Stromausfälle. Menschen, die gegeneinander um lebensnotwendige Güter kämpfen müssen. All das summiert sich zu einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Beginn der Aufzeichnung. Da erscheint selbst das Wort desaströs noch zu optimistisch und es ist wohl passender, vom Libanon als einer Nation im Prozess des Staatszerfalls zu sprechen.
Ein Land der Mangelerscheinungen
Die vielschichtige Krise in dem Land, das einst als die Schweiz des Nahen Ostens galt, hatte sich schon seit geraumer Zeit angebahnt. Doch erst im Oktober 2019 erreichte sie einen kritischen Punkt. Der plumpe Versuch der damaligen libanesischen Regierung, die Verbrauchssteuern zu erhöhen, löste in Verbindung mit der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage Massenproteste aus. Anstatt aber die immer größer werdenden Probleme des Landes anzugehen, trat die Regierung einfach zurück. Dies führte dazu, dass ausländische Finanzmittel versiegten und die Währung des stark importabhängigen Landes zusammenbrach. Im Jahr 2020 begannen sich dann die Preise zu vervielfachen, die Pandemie heizte das Feuer weiter an und die Wirtschaft ging in den freien Fall über, wobei das Pro-Kopf-BIP um 40 % zurückging. Doch trotz zunehmend verzweifelter öffentlicher Appelle für grundlegende Reformen und Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung unternahm auch die neue Regierung wenig, um die sich kaskadenartig verschlimmernden Krisen des Landes anzugehen – und dann kam es zur Explosion in Beirut.
Abgesehen von den hohen menschlichen Kosten der Explosion verursachte sie in der Hauptstadt auch einen Sachschaden von rund 15 Milliarden US-Dollar, was damals etwa der Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Libanon entsprach. Ein erneuter verheerender Schlag für Land und Wirtschaft, der den Rücktritt einer weiteren Regierung zur Folge hatte. Während sich die verschiedenen politischen Parteien noch nicht einmal auf eine Nachfolgeregierung einigen konnten, verschärfte sich die Krise immer weiter: Obwohl der Libanon schon seit langem von Stromausfällen geplagt war, führte der Mangel an Treibstoff für die Stromerzeugung nach der Explosion dazu, dass im ganzen Land nur noch wenige Stunden Strom zur Verfügung stand – und immer häufiger kommt es zu Totalausfällen.
In der Folge mussten Krankenhäuser ihren Betrieb einschränken, Lebensmittelvergiftungen häufen sich, und über 71 % der Bevölkerung steht kurz davor den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu verlieren. Die Versorgungsengpässe sind inzwischen so gravierend, dass es regelmäßig zu Verteilungskämpfen auf offener Straße kommt und religiös motivierte Gewalt stark zunimmt. Wo man auch hinschaut, findet man ein Land im Zusammenbruch, und es überrascht nicht, dass qualifizierte Arbeiter den Libanon in Scharen verlassen. Die Bildung einer neuen Regierung im September 2021 war zwar ein seltener Lichtblick, doch wird kein Regierungswechsel die Probleme des Landes lösen können, solange das politische System nicht grundlegend reformiert wird.
Institutionalisierte Leichenfledderei
Das derzeitige politische System ist ein Erbe des brutalen libanesischen Bürgerkriegs und teilt die Staatsgewalt strikt nach Religionszugehörigkeit auf: So muss beispielsweise der Präsident ein maronitischer Christ sein, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim. Auf diese Weise werden allen 18 offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften Positionen in der Regierung, im Militär und im öffentlichen Dienst zugesichert. Das Ergebnis ist ein System, in dem die verschiedenen staatlichen Institutionen eher konkurrierenden „bürokratischen Fürstentümern“ ähneln, die um Geld und gut bezahlte Posten wetteifern, als einer Regierung. Doch obwohl der Status quo unglaublich unpopulär ist, hat die politische Elite des Libanons wenig Interesse daran, ein System zu reformieren, das praktisch auf einen verfassungsmäßig sanktionierten Selbstbedienungsladen hinausläuft und sie vor demokratischer Kontrolle schützt.
Die Explosion in Beirut steht stellvertretend für alles, was mit dem politischen System des Libanon nicht stimmt. Da wären zunächst einmal die Nachlässigkeit, die Korruption und die Misswirtschaft, die die Explosion überhaupt erst möglich gemacht haben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Untersuchung der Tragödie ständig von den einflussreichen Kräften behindert wird, Vorladungen zur Zeugenaussage folgenlos ignoriert werden und der erste mit der Untersuchung beauftragte Richter auf Geheiß hochrangiger Politiker entlassen wurde. Insbesondere die Hisbollah und ihre Verbündeten haben intensiv darauf hingearbeitet, die Ermittlungen zu unterlaufen. Die Hisbollah ist eine hybride Organisation, die große Teile des Landes kontrolliert, darunter interessanterweise auch den Hafen von Beirut, in dem sich die Explosion ereignete. Die schiitische Organisation droht derzeit damit, die Regierung zu stürzen, wenn der mit den Ermittlungen beauftragte Richter nicht abgesetzt wird – schon wieder. Offenbar ist die politische Klasse noch immer vollkommen zufrieden damit, auch weiterhin die Überreste des libanesischen Staates zu fleddern, während der Rest des Landes im Chaos versinkt.
Eine neue Flüchtlingskrise?
Es ist nicht so, dass die Situation im Libanon international unbemerkt geblieben wäre, aber dessen langsames Abgleiten in die Katastrophe steht auch nicht besonders hoch oben auf der Prioritätenliste der internationalen Staatengemeinschaft. Zumindest für Europa ist die Entschärfung dieser Krise jedoch nicht nur ein reiner Akt der Menschenfreundlichkeit. Der Libanon beherbergt bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine Flüchtlingsbevölkerung von etwa 2 Millionen Menschen, die fast alle in bitterer Armut leben. Ebenso stellt sich die Frage, wie lange der Rest der libanesischen Bevölkerung es noch hinnimmt, dass jeden Tag ein neuer Tiefpunkt erreicht wird. Da der nächstgelegene EU-Mitgliedstaat, Zypern, kaum mehr als 200 Kilometer entfernt ist, scheint die Richtung einer potenziellen Flüchtlingswelle offensichtlich.
Es kann fast als sicher angesehen werden, dass die politische Elite des Libanon aus eigenem Antrieb keine nennenswerten Reformen durchführen wird. Folglich muss die internationale Gemeinschaft ihre laufenden Bemühungen zur Sanktionierung derjenigen verstärken, die eine Lösung der Krise im Libanon verhindern. Während vielen politischen Entscheidungsträgern der Zustand des Libanon vielleicht egal ist, so dürfte dies wohl nicht für den Zugang zu ihren Bankkonten und Vermögenswerten im Ausland gelten. In der Zwischenzeit sollten internationalen Akteure die korrupten Institutionen des libanesischen Staates so weit wie möglich meiden. Stattdessen sollte finanzielle, materielle und logistische Unterstützung vorzugsweise lokalen Organisationen zugutekommen, um zu verhindern, dass die dringend benötigte Hilfe in die Taschen einiger Weniger landet. Wenn sich die Lage im Libanon weiterhin verschlechtert, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu einem erneuten Massenexodus kommt.