Welche Zukunft hat der Libanon? Eine sicherheitspolitische Analyse
Seit September 2024 ging das israelische Militär mit großer Härte gegen die Hisbollah-Miliz im Libanon vor. Mehr als 3000 Menschen wurden getötet, fast anderthalb Millionen Menschen vertrieben. Die Gefahr einer Entgrenzung des Konfliktes ist trotz des Waffenstillstandes nicht vom Tisch. Die Spannungen zwischen Israel und dem Iran können jederzeit eskalieren und aus dem Jemen und dem Irak wurden immer wieder Raketen auf Israel abgefeuert. Einen Überblick über die Lage bietet Travel Security Analyst Timo P. Goldschmidt.
Die Hisbollah übernimmt im Libanon viele staatliche Aufgaben. Sie unterhält eigene Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Jugendorganisationen. Am Abend des 27. September wurde der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah durch einen Luftangriff der israelischen Armee getötet. Seitdem hat es Israel geschafft, die Strukturen der Hisbollah stark zu schwächen, Führungskader zu eliminieren und Hauptquartiere sowie Waffendepots zu zerstören.
In dem Land, welches oft als Beispiel für einen ,,failed state“ dient, wird das Machtvakuum weiter verstärkt. Es ist unklar, inwiefern die Hisbollah langfristig in die politische Struktur des Libanon, ohne starken Einfluss des Iran, eingebunden werden kann. Seit zwei Jahren gibt es keinen libanesischen Präsidenten, sondern nur eine geschäftsführende Regierung und die Wirtschaft kollabiert. Der Staat ist mit der Versorgung der knapp 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge, die aufgrund der Eskalation innerhalb des Landes vertrieben wurden, völlig überfordert. Armut und Perspektivlosigkeit sind ein weiterer Nährboden für Extremismus und eine Vertiefung der Konflikte im Land. Wichtig in dieser Situation wäre eine stabile Regierung unter einem neu gewählten Präsidenten, der alle Strömungen und Konfessionen des Landes gleichberechtigt partizipieren ließe, um handlungsfähig zu sein. Der Staat müsste sich modernisieren und gestärkt werden, um durch Einbindung zu einer Versöhnung der polarisierten Gesellschaft beitragen zu können. Im Zuge der Schwächung der schiitischen Hisbollah fordern viele Libanesen, dass die Armee mehr Einfluss bekommen soll. Dabei besteht aber das Risiko einer Zunahme der inneren Konflikte und einer weiteren Destabilisierung. Gleichzeitig gibt es Befürworter eines Fortbestandes der Hisbollah als politischer Akteur, allerdings ohne den starken Einfluss des Iran.
Der neue Führer der Hisbollah Naim Kassim sprach von einem möglichen Waffenstillstand, ohne ihn mit einem Ende des Gazakrieges zu verknüpfen. Zahlreiche libanesische Abgeordnete sind zwar für eine starke Solidarität mit den Palästinensern, der Krieg in Gaza sei aber nicht der Krieg des Libanon. Je länger der Krieg dauerte, umso deutlicher stellten sich Christen, Sunniten und Drusen gegen die Hisbollah. Sie sehen in Israel zwar den Aggressor und Feind, der Hisbollah werfen sie aber vor, das Land in den Abgrund geführt zu haben.
Am 27. November 2024 trat ein von den USA vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hisbollah in Kraft. Dennoch ist die Lage weiter instabil und der Frieden brüchig. Die verschiedenen politischen Akteure im Land könnten sich in dieser Situation wieder verstärkt ihren jeweiligen Schutzmächten zuwenden, die Christen – dem Westen, die Schiiten – dem Iran, die Sunniten – Saudi-Arabien. Die politischen, gesellschaftlichen Spannungen könnten somit weiter zunehmen. Das Risiko eines Bürgerkrieges besteht weiterhin.
In dieser heiklen Lage stellt sich auch die Frage, nach dem Einfluss der Wahl Donald Trumps auf die Geschehnisse im Libanon. Es besteht zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern weitestgehend Einigkeit, dass die USA unter Trump auf eine striktere Durchsetzung von UN-Resolutionen drängen könnten, welche die Entwaffnung der Hisbollah und die Stärkung der libanesischen Souveränität beinhalten. Dies wird von einigen Parteien, wie den Lebanese Forces und der Kata’ib begrüßt, von anderen allerdings kritisch gesehen, da es die Spannungen im Land weiter vertiefen könnte. Einige libanesische Führer hoffen, dass Trump die diplomatischen Beziehungen und die finanzielle Unterstützung für den Libanon stärkt und den Einfluss des Irans im Land zurückdrängen wird. Trump könnte auch den Druck auf den Iran verstärken, die Unterstützung für die Hisbollah zu reduzieren und sich im Gegenzug für eine Lockerung der US-Sanktionen gegen den Iran öffnen.
Doch trotz Trumps Wahlversprechen gibt es auch eine starke Skepsis hinsichtlich seiner Versprechen. Es wird befürchtet, dass Trump keine wesentlichen Veränderungen bringen wird. Allerdings ist eine große Sorge verschiedener politischer Beobachter, durch den aktuellen Waffenstillstand, zunächst vom Tisch. Es wurde befürchtet, dass der israelische Ministerpräsident Netanyahu die Übergangszeit bis zu Trumps Amtsantritt nutzen würde, um das militärische Vorgehen gegen die Hisbollah und den Libanon zu intensivieren.
Im Mai 2024 gab die Weltbank an, dass 44 Prozent der libanesischen Bevölkerung in Armut leben. Der Tourismus wäre eine wichtige Einnahmequelle für das gebeutelte Land, aber auch hier sieht es gegenwärtig nicht gut aus. Aufgrund der fatalen Sicherheitslage warnt das Auswärtige Amt vor Reisen in den Libanon, Deutsche sollen das Land schnellstmöglich verlassen. Für das Jahr 2025 ist für den Tourismus keine Besserung in Sicht. Viele Libanesen haben das Land mittlerweile verlassen.
Neben der Stromversorgung ist auch die öffentliche Gesundheitsversorgung weitestgehend zusammengebrochen. Die dysfunktionalen staatlichen Strukturen werden zunehmend von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bürgerinitiativen aufgefangen. Die Zivilgesellschaft im Libanon hat nicht erst nach der Hafenexplosion 2020 bewiesen, was sie im Stande ist zu leisten. Sie übernahm auch damals teilweise staatliche Funktionen und unterstützte die Menschen gezielt vor Ort. Man sollte sich bemühen, diese positive Schaffenskraft bei einer Neuaufstellung des Staates zu nutzen. Ob eine erfolgreiche Neuaufstellung der libanesischen Staatlichkeit überhaupt gelingen kann, ist gegenwärtig mehr als unklar. Die vielfältigen Probleme des Landes könnten den Libanon so weit destabilisieren, dass die Gefahr eines zweiten Bürgerkriegs besteht. Ein solcher Verlauf läge im Interesse keines Akteurs. Ein zerstörter Libanon, einst kulturelles Zentrum der arabischen Welt, hätte sehr negative Auswirkungen im Nahen Osten, einschließlich Israel und selbstverständlich auch global. Es ist dringend geboten, dass sich die USA, Europa und die arabische Welt auf eine langfristige diplomatische Lösung einigen, welche die Sicherheitsinteressen sowohl Israels als auch die des Libanon wahren.