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Quo Vadis Äthiopien: Zwei Kriege zum Preis von einem?

von Michael Trinkwalder

Vielleicht ist es an der Zeit, den Friedensnobelpreis erst nach dem politischen Karriereende zu verleihen. Ähnliche Gedanken mögen dem Nobelkomitee durch den Kopf gegangen sein, als der Friedensnobelpreisträger und äthiopische Premierminister Abiy Ahmed Ali im November 2020 einen Bürgerkrieg in Äthiopiens nördlicher Tigray-Region auslöste. Was als eine „groß angelegte Polizeiaktion“ mit „begrenzten und realistischen“ Zielen begann, entwickelte sich rasch zu einem erbittert geführten Krieg. Einen Krieg, den die äthiopischen Streitkräfte Gefahr laufen zu verlieren. Doch während der Bürgerkrieg weiter eskaliert, droht Äthiopien am Horn von Afrika nun auch noch ein zwischenstaatlicher Konflikt.

Ein vielversprechender Anfang

Als Abiy Ahmed Ali im April 2018 an die Macht kam, machte ihn sein ambitioniertes Reformprogramm schnell zum Liebling der internationalen Medien: Unter anderem beendete er den zweijährigen Ausnahmezustand, ließ Tausende von politischen Gefangenen frei, ging auf die Opposition zu, hob Medienbeschränkungen auf und versprach, sowohl die Wirtschaft als auch das politische System umfassend zu liberalisieren. Abiys außenpolitische Agenda war sogar noch ehrgeiziger. Er hatte sich nämlich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt, als den seit fast 20 Jahren währenden kalten Krieg zwischen Äthiopien und seinem nördlichen Nachbarn Eritrea zu beenden. Doch trotz dieses äußerst ambitionierten Ziels konnte in Rekordzeit eine Einigung über die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen und die Wiederöffnung der Grenzen erzielt werden. Für diese bemerkenswerte Leistung wurde er dann auch 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Zusammen mit seiner scheinbar progressiven Vision und jugendliche Energie machten ihn dies zu einer idealen Projektionsfläche für all jene, die hofften, dass unter seiner Führung der äthiopische Vielvölkerstaat zu einem Vorbild für den Rest des Kontinents werden könnte. Doch bei weitem nicht alle waren mit dem Tempo oder auch nur der Zielrichtung seiner Reformen einverstanden.

Krieg in Tigray: Friedensnobelpreisträger auf Abwegen?

Zu seinen größten Gegnern gehörte allen voran die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die Partei der Tigray-Volksgruppe, die vor Abiys Amtsantritt fast drei Jahrzehnte lang die äthiopische Regierung dominiert hatte. Die Spannungen eskalierten als die TPLF im September 2020 in Tigray Regionalwahlen abhielt, obwohl die Bundesregierung angeordnet hatten, alle Wahlen aufgrund der Pandemie zu verschieben. Die Situation verschlechterte sich immer weiter, bis die TPLF dann Anfang November mehrere „Präventivschläge“ gegen Stellungen der äthiopischen Bundesstreitkräfte in Tigray durchführte. Woraufhin die äthiopische Regierung mit einer groß angelegten Militärintervention reagierte, an der Zehntausende regulärer Soldaten beteiligt waren. Zusätzlich unterstützt wurde die Aktion von paramilitärischen Einheiten aus der Amhara-Region und überraschenderweise auch vom ehemaligen Erzfeind, dem eritreischen Militär.

Aufgrund seiner zahlenmäßigen Übermacht und einer gespaltenen Opposition erzielte das äthiopische Militär schnelle Erfolge. Innerhalb eines Monats war der größte Teil der Tigray-Region, einschließlich ihrer Hauptstadt Mek’ele, eingenommen worden. Obwohl die Kämpfe nur relativ kurz andauerten, waren die Folgen verheerend: Tausende wurden getötet, Millionen zur Flucht gezwungen und Hunderttausende in eine Hungersnot getrieben. Was folgte, war womöglich noch schlimmer: Wahllose Tötungen, gezieltes Aushungern von Zivilisten, massenhafte sexuelle Gewalt und ethnische Säuberungen. Die Haupttäter waren dabei eritreische Truppen, die darauf trachteten Rache für vergangenes Unrecht zu nehmen. Diese brutale Behandlung einte die Bevölkerung gegen die Besatzung und verhalf den TPLF-Rebellen zu Tausenden von hoch motivierten neuen Rekruten.

Das Blatt wendet sich

Ende Juni 2021, gerade als Abiy im Rest des Landes einen überwältigenden Wahlsieg errang, bliesen die neuformierten Tigray Defence Forces (TDF) zu einem massiven Gegenangriff, bei dem äthiopische Militärstellungen in der Region „wie Dominosteine“ fielen. Innerhalb nur weniger Tage waren die äthiopischen Streitkräfte gezwungen, sich zuerst überstürzt aus der regionalen Hauptstadt und anschließend aus einem Großteil der Tigray-Region zurückzuziehen. Die TDF behauptet, Zehntausende von äthiopischen Soldaten entweder gefangen genommen oder getötet zu haben. Auch wenn diese Aussagen nur schwer zu überprüfen sind, so waren die Verluste zweifellos hoch. Im Anschluss an dieses Debakel erklärte Premierminister Abiy einen einseitigen „humanitären Waffenstillstand,“ der jedoch sofort von der TDF zurückgewiesen wurde. Stattdessen gelobten die Rebellen bis zur vollständigen „Befreiung“ Tigrays weiterzukämpfen. Besonders alarmierend ist dabei, dass der Konflikt nicht nur immer weiter eskaliert, sondern auch zunehmend von der Frage der ethnischen Zugehörigkeit dominiert wird. Für die Zukunft des äthiopischen Vielvölkerstaates verheißt diese Entwicklung nichts Gutes.

Schon jetzt finden Kämpfe vermehrt außerhalb Tigrays statt, und bisher unbeteiligte äthiopische Volksgruppen haben militärische Verstärkung in das Konfliktgebiet entsandt, was die ethnischen Nationalismen im Land weiter anheizen dürfte. Nur eines scheint sicher: Der Bürgerkrieg in Äthiopien wird wohl so bald nicht enden. Als sich die äthiopischen Streitkräfte überstürzt aus Mek’ele zurückzogen, behaupteten Regierungsvertreter in Addis Abeba zunächst, dass dies lediglich eine taktische Entscheidung gewesen sei. Angeblich, um äußeren Bedrohungen besser begegnen zu können. Dieser reichlich durchsichtige Versuch der Gesichtswahrung könnte sich allerdings noch als prophetisch erweisen.

Krieg um die Wasser des Nils?

Schließlich lässt der andauernde Bürgerkrieg Äthiopien denkbar schwach erscheinen. Schon jetzt hat sich der Sudan die äthiopische Notlage zunutze gemacht, um die Kontrolle über die umstrittene und äußerst fruchtbare al-Fashaga-Region zu übernehmen. Doch sind es nicht die zahlreichen Landstreitigkeiten am Horn von Afrika von denen die größte Kriegsgefahr ausgeht. Ein erheblich größeres Eskalationspotential liegt vielmehr im Streit um die Wasser des Nils verborgen. Brennpunkt des Konflikts ist der Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD), den Äthiopien seit 2011 am Blauen Nil direkt an der Grenze zum Sudan baut. Nach seiner vollständigen Inbetriebnahme wird der Staudamm in der Lage sein die Stromproduktion des chronisch energiearmen Äthiopiens in etwa zu verdoppeln, was dem Wirtschaftswachstum des zweitbevölkerungsreichsten Landes Afrikas einen kräftigen Schub verleihen dürfte. Allerdings versorgt der Nil auch Ägypten mit über 97% seines Trinkwasserbedarfs und ist für den Sudan ebenfalls von enormer Bedeutung. Daher würde die Fertigstellung des Staudamms die beiden Länder praktisch von Äthiopiens Wohlwollen abhängig machen.

Es ist deshalb wenig überraschend, dass sich sowohl Ägypten als auch der Sudan vehement gegen das GERD-Projekt stellen und auf Abkommen aus der Kolonialzeit verweisen, die den beiden Ländern den überwiegenden Teil des Nilwassers zusprechen. Abkommen, welche wiederum von Äthiopien nicht anerkannt werden. Ägyptens Präsident el-Sisi hat bereits gedroht, dass „alle Optionen“ zur Lösung des Problems infrage kämen, und ein militärisches Kooperationsabkommen mit dem Sudan abgeschlossen. Dass ihre Befürchtungen nicht ganz unbegründet sind, zeigte die Tatsache, dass Äthiopien im Juli 2020 schon einmal ohne Vorwarnung die Tore des Staudamms schloss. In der Folge sank der Wasserstand des Nils dramatisch, sodass Millionen von Einwohnern der sudanesischen Hauptstadt tagelang keinen kontinuierlichen Zugang zu Trinkwasser hatten und auch die landwirtschaftlichen Bewässerungssysteme entlang des Nils zum Erliegen kamen.

Ägypten und der Sudan pochen deshalb auf ein verbindliches Abkommen, das den Betrieb des Staudamms regelt. Aber Äthiopien weigert sich hartnäckig, während es den Staudamm weiter befüllt. Keiner der beiden Hauptakteure in dem Streit kann ohne weiteres einlenken, da sowohl Kairo als auch Addis Abeba die GERD-Frage als existenziell ansehen. Angesichts der festgefahrenen Verhandlungen, der derzeitigen militärischen Schwäche Äthiopiens sowie seiner diplomatischen Isolation könnte eine militärische Lösung des GERD-Problems für Ägypten zunehmend verlockender werden. Unter Umständen könnte daher schon eine regionale Dürre den ersten Wasserkrieg des 21. Jahrhunderts auslösen.

Quo Vadis Äthiopien?

Trotz seines überwältigenden Wahlsiegs befindet sich Premierminister Abiy in einer wenig beneidenswerten Lage. Er hat sowohl im In- als auch im Ausland erheblich an Ansehen verloren. Das Land leidet bereits unter einem eskalierenden Bürgerkrieg, wachsenden ethnischen Spannungen und schleppenden Wirtschaftswachstum – ein weiterer Krieg wäre also das Allerletzte, was Abiy und Äthiopien brauchen könnten. Andererseits kann sich der äthiopische Premierminister nur schwer einen weiteren Rückschlag leisten, was seine Kompromissbereitschaft wohl kaum steigern dürfte. Sollten sich die Krisen in Äthiopien weiter in diesem Tempo intensivieren, könnte dies das Ende bedeuten. Nicht nur für seine Reformagenda oder Regierung, sondern möglicherweise auch für Äthiopien.

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Michael Trinkwalder

Comments (3)

  1. Global Monitoring: Die Woche - A3M Global Monitoring
    2021-08-13

    […] über die Hintergründe und Folgen des Äthiopischen Bürgerkriegs erfahren möchte, dem sei dieser A3M Artikel über den Konflikt ans Herz […]

  2. Global Monitoring: Die Woche - A3M Global Monitoring
    2021-12-24

    […] Arabischen Emiraten, der Türkei und dem Iran geliefert und teilweise auch betrieben werden. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs im November 2020 konnten äthiopische Regierungstruppen zuerst große militärische Erfolge […]

  3. Global Monitoring: Die Woche - A3M Global Monitoring
    2023-02-10

    […] Eine A3M-Analyse zu den Hintergründen des äthiopischen Bürgerkrieges finden sie hier: Quo Vadis Äthiopien – Zwei Kriege zum Preis von einem?  […]

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